WARUM KREBS?

Seit Mitte der 90iger Jahre beschäftigt mich die Frage, warum Krebs seit dem Zweiten Weltkrieg so extrem zunimmt. Dabei fiel mir auf, dass immer wenn wir über Krebs sprechen, ganz bestimmte Begriffe gehäuft auftauchen.

1. Bösartig und Gutartig

Bösartige Zellen sind nicht mehr Teil des aus gutartigen Zellen bestehenden Organismus. Gut und Böse sowie Ableitungen wie bösartig, abartig, unartig, eigenartig, entartet, nicht normal, andersartig sind in der Regel negativ belegt. Hier kippen aber die Bedeutungen wieder ins Positive: anders, ungewöhnlich, besonders sein kann im Gegensatz zu normal, angepasst, langweilig, gewöhnlich stehen.

2. Isolation und Kommunikation

Krebszellen kommunizieren nicht mit den normalen Zellen. Krebszellen isolieren sich oder werden isoliert. Auch bei Krebskranken ist selbstgewählte oder aufgezwungene Isolation ein Thema. Sie vermeiden oft z.B. den Begriff "Krebs", sprechen wenn überhaupt von "meiner Krankheit".

3. Kämpfen und Aufgeben

Wer Krebs hat muß kämpfen. Das erwarten wir von ihm und können es kaum verstehen, wenn er gehen will: Wer aufgibt ist ein Opfer.

4. Opfer

Im uralten Opfer-Mythos werden die Besten oder die Schwächsten (Menschen, Tiere, Opfergaben aller Art) einer als überlegen empfundenen Macht wie der Natur, einem Gott dargebracht, um eine böses Schicksal abzuwenden Schicksal. Der gerechte oder ungerechte Zorn dieser Macht soll besänftigt werden. Wer sich freiwillig opfert für sein Kollektiv erlangt dessen Anerkennung, vielleicht sogar dessen Entschuldung (Opferlamm, Sündenbock).

5. Gerecht und Ungerecht

Oft empfinden wir es als ungerecht daß gerade die Guten an Krebs erkranken?

6. Wachstum und Remission

Unkontrolliertes Wachstum Einzelner (Krebszellen, Kapital, Konzerne, Individuen) geschieht zumeist auf Kosten des Ganzen.

Spontane Remissionen von Krebs sind selten, Remissionen im Handel oder Vertriebswesen werden Remittenden genannt, im Buchhandel heißen sie Krebse.

7. Tod und Unsterblichkeit

Krebskrankheit macht uns klar, daß unser Leben endlich ist. Aus der Gewißheit des eigenen Todes erwächst die Sehnsucht nach längerem Leben oder sogar Unsterblichkeit. Nur Krebszellen (vergl. HeLa-Zellen),  Gott und Engel sind unsterblich.

8. Hinsehen und wegsehen

Schock ist eine natürliche Reaktion auf die Erkenntnis, daß mein individuelles Leben nun ganz konkret endlich sein wird. Gelähmtheit oder Überaktivität sind mögliche Folgen. Meist wollen wir zunächst den Tatsachen nicht ins Auge sehen.

Menschen die dies wagen, gehören statistisch gesehen zu denen, die (länger) überleben.

9. Schuld

Schuldgefühle - egal ob begründet und nachvollziehbar oder auch nicht - sind häufig Thema im Krebs-Erleben.

10. Weitere häufige Krebs-Themen:

Urteil, Strafe, Verantwortungs(-los), unkontrolliert, Rehabilitation.

11. Zusammenfassung

Krebszellen schlagen aus der Art, sind  bösartig. Sie sagen NEIN zum Organismus, wollen anders als die anderen Zellen sein, die ihre Aufgaben brav erfüllen, sie wollen nicht länger der Norm entsprechen. Ihnen ist es egal, was der Rest über sie „denkt“. Sie reden nicht mit "den Anderen". Sie halten sich nicht  an Recht und Ordnung  - die Gesetze - des Organismus, fürchten nicht Schuld, Urteil und Strafe!  Sie entziehen sich der Verantwortung für das Ganze, jeglicher Kontrolle und legen auch keinen Wert auf Rehabilitation.

Daraus ergeben sich für mich folgende Fragen:

  • Ist Krebs uns ein Spiegel?
  • Spiegelt Krebs als ein Konflikt zwischen der einzelnen Zelle und dem ganzen Organismus unseren gegenwärtig dominanten Konflikt  zwischen Individuum und Kollektiv?
  • Ist Krebs die Seuche der Gegenwart?
  • Spiegelt er in unseren Organismen das unkontrollierte, unendliche, maßlose Wachstumsstreben unserer Gesellschaft?
  • Spiegeln unsere inneren Bilder [1] vom Krebs die Polarität von  Kapitalismus/Individualismus einerseits und Sozialismus/Kollektivismus andererseits?
  • Spiegelt sich im I-Phone, I-Pad (deren Entwickler Steve Jobs an Krebs starb) und anderen I-Geräten die Egoismus-Verhaftung unserer modernen Gesellschaft?
  • Hat die Soziologin Nuber recht?
  • „Wie ein bösartiger Tumor hat sich vor allem in der Mittel- und Oberschicht der westeuropäischen Staaten und Nordamerikas die Vorstellung von der individuellen Freiheit ausgebreitet.“ [1]
  • Wie kommt es zu dieser Spiegelung eines kollektiven Phänomens in individuellen Körpern?
  • Welche Rolle spielt bei dieser Spiegelung das individuelle und kollektive Unterbewußtsein?
  • Haben unsere indivduellen und kollektiven Inneren Bilder die Macht, Krebs zu verursachen?

Damit will ich beleuchten, dass es neben den wissenschaftlich bestätigten Krebs-Ur -Sachen (familiäre Krebsbelastung, Tabak, Alkohol, Mangel an Bewegung, schädliche Ernährung, Gifte, Strahlen - Sonnenlicht -, usw.) möglicherweise Krebs-Ur-Gefühle gibt, die darauf hindeuten, dass ein Mensch sich in Auseinandersetzung mit Krebs befindet.

Auf den folgenden Seiten werde ich nach und nach Texte zu Filmen, Romanen, Gedichten, Internetseiten und anderen Werken von KünstlerInnen die

  • an Krebs erkrankten,
  • oder im direkten Umfeld erlebten,
  • oder Krebs zum Thema haben

einstellen, und in deren Werken meine Thesen zur Frage "WARUM KREBS?" belegen.

Links zu den einzelnen nach Themen geordneten Zusammenfassungen finden Sie hier:

1. Gut und Böse (bösartig, abartig, unartig, eigenartig, entartet, nicht normal, andersartig)
Karolin Kolbe: Und plötzlich steht Dein Leben auf Null

2. Isolation und Kommunikation
Karolin Kolbe: Und plötzlich steht Dein Leben auf Null

3. Kämpfen und Aufgeben
4. Opfer
Theodor Storm – zwischen Aberglaube und Neuzeit

5. Gerecht und Ungerecht
6. Wachstum und Remission
7. Tod und Unsterblichkeit
8. Hinsehen und Wegsehen
9. Schuld, Urteil, Strafe
10. Verantwortungs(-los)
Rene Freund, Ans Meer

11. Kontrolliert und unkontrolliert
12. Rehabilitation

Theodor Storm – zwischen Aberglaube und Neuzeit

Storm wurde 1827 in Husum geboren und starb 1888 in Hanerau-Hademarschen an Krebs. Er war einer der bedeutenden deutschen Schriftsteller, der insbesondere durch „ Der Schimmelreiter“ vielen Menschen bekannt ist.

Er war schon länger krank. Als sein Hausarzt ihm dann schließlich Magen-Krebs  attestierte, verfiel Storm in eine Depression.

Schon viele Jahre vor der Krebsdiagnose schrieb Storm:

Beginn des Endes

Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben;
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.

Wenn du es andern klagen willst,
So kannst du's nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
Und dennoch will es dich nicht lassen.

So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verläßt dich alles Hoffen,
Bist du es endlich, endlich weißt,
Daß dich des Todes Pfeil getroffen.

Storms Bruder und ein befreundeter Arzt wollten ihn durch eine bewusste Fehldiagnose aus der reaktiven Depression befreien und Storm nahm diese Lüge dankbar an. Nicht hinsehen, verdrängen wollen ist eine nicht seltene Reaktion auf die Krebsdiagnose.

Nichts desto trotz verdanken wir dieser gut gemeinten Schwindelei, daß Storm den „Schimmelreiter“ schrieb, den er eigentlich schon seit seiner Jugend gestalten wollte. In seinem Gedenkblatt für Lena Wies erinnerte er sich 1873, wie sie „in gedämpftem Ton“ und mit andachtsvoller Feierlichkeit nicht nur eigene Erlebnisse oder „aufgelesene Geschichten“, sondern auch „die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter“ erzählte, „der bei Sturmfluten nachts auf den Deichen gesehen“ worden sei. [2]

Doch der Reihe nach:

Die Kerngeschichte ist eingebettet in eine Rahmenhandlung um die Glaubhaftigkeit des Erzählten zu erhöhen und spielt in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Ostfriesland, der Heimat Storms, der er in seinem gesamten Werk zahlreiche Denkmäler setzte.

Nachweislich hatte das Schicksal des Hauke Haien[3] Storm schon seit seiner Jugend beschäftigt und nun, kurz vor seinem Tod gestaltet er so ein symbolträchtiges Werk, in dem Haukes Scheitern zu seinem Selbstopfer führt.

In einem Dorf am Meer wächst der kluge, wissbegierige Hauke Haien als Halbwaise und Sohn eines kleinen Bauern auf. Er spielt aber kaum mit den anderen Kindern, liegt lieber auf dem Deich und beobachtet das Meer. Und dabei entsteht in ihm die Idee, wie man durch einen sanfter ansteigenden Deich dem anstürmenden Meer seine Gefährlichkeit nehmen könne! Hinter dem Deich ist dies ein zentrales Thema der im Schutz des Deichs lebenden Menschen: wie können wir im ewigen Kampf gegen das Meer bestehen.

Hauke tritt als junger Mann in den Dienst des Deichgrafen, der traditionsgemäß nicht nur ein reicher Bauer sein musste, sondern auch für die Erhaltung der Deiche finanaziell und mir ihrer Arbeitskraft die gesamte Bevölkerung verpflichten kann. Hauke ist ehrgeizig und unterstützt schon bald den alten, nicht besonders cleveren Deichgrafen bei dessen Arbeit, ja, alle wissen nach ein paar Jahren, dass er der eigentliche Deichgraf ist.

Schade nur dass Hauke nicht genug Land besitzt, um sich erfolgreich auf das Amt des alten Deichgrafen zu bewerben. Da trifft es sich gut, dass Elke, die Tochter des alten Deichgrafen, klug und hübsch und obendrein als spätere Erbin eine gute Partie ist. Und noch besser trifft es sich, dass Hauke und Elke sich mögen.

Nach dem Tod des alten Deichgrafen, fädelt Elke geschickt ein, dass ihr zukünftiger Mann Hauke der neue Deichgraf wird, gegen den Widerstand Vieler im Dorfe. Abermit dieser Isolation müssen und können die beiden leben sie sind eben auch was Besonderes.

Hauke setzt nach einiger Zeit seinen ehrgeizigen, lang gehegten Plan um: ein neuer Deich - nach seiner Planung sanft ansteigend - soll das Land besser schützen und neue Felder und Wiesen dem Meer entreissen. Allerdings hat es eine gewissen Beigeschmack, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses neuen Landes ihm und seiner Frau Elke gehört und nach der Eindeichung im Wert beträchtlich steigen wird. Darum und auch weil die Frondienste zum Bau des Deiches nicht unbedingt auf Gegenliebe bei der Bevölkerung stoßen, wird Hauke noch mehr zum Außenseiter, als er es bisher schon war. Aber Landwachstum ist nun mal ein starker Motor im ewigen Kampf gegen das Meer, vor allem wenn es Mehrwert bringt. Unterstützt durch die übergeordneten Behörden setzt Hauke den Bau des neuen Deiches um, wobei er gegen die abergläubische Regel verstößt, dass etwas Lebendiges in den Deich verbaut werden muss. Früher opferte man dafür schon mal ein Zigeunerkind, jetzt muss es ein junger Hund tun, dem Hauke aber das Leben rettet. Die Bauern sind empört, dass er die alten Deichgesetze und Normen nicht respektiert.

Den Höhepunkt seiner Unbeliebtheit erreicht Hauke, als er von einem verdächtigen Umherziehenden einen scheinbar heruntergekommenen Schimmel kauft, der sich durch seine Pflege  aber zu einem feurigen und eigensinnigen Prachtpferd entwickelt. Die Dorfbevölkerung munkelt, dass der Schimmel ein Teufelswerk sei, denn kaum war der Schimmel aufgetaucht, sei ein altes Pferdegerippe das ewig im Watt lag, verschwunden.

Hauke und Elke kümmern sich aber wenig um das Gerede im Dorfe und Haukes  Stolz auf seinen neuen Deich (er hat wohl gehört, dass man ihn mit seinem Namen nennt: Hauke-Haien-Deich) macht ihn nicht beliebter. Aber als er eines Tages bei einem seiner Deich-Kontroll-Ritte eine Problemstelle zwischen altem und neuem Deich entdeckt und sie aufwändig reparieren lassen will, kann er sich nicht gegen die murrenden Bauern durchsetzen, sondern lässt sich auf eine fadenscheinige Reparatur ein, anstatt seiner Verantwortung als Deichgraf gerecht zu werden und den Deich richtig reparieren zu lassen.

Diese Not-Reparatur hält auch eine zeitlang gut. Als allerdings zu Allerheiligen eine ungewöhnlich heftige Sturmflut kommt, droht die reparierte Stelle zu brechen.

Um den alten Deich zu entlasten will die Dorfbevölkerung panisch seinen neuen Deich durchstechen. Das verbietet Hauke und so bricht schliesslich der alte Deich und das Meer droht, das Dorf zu verschlingen. Als auch noch Elke mit dem gemeinsamen Kind von den Fluten davongerissen wird, nimmt Hauke die Schuld für den Deichbruch auf sich. Er gibt seinem Schimmel die Sporen und stürzt sich mit ihm zusammen in das reissende Meer mit den Worten: „Herr Gott, nimm mich; verschon die andern.“[4]

Und wie durch ein Wunder beruhigt sich das Meer nach diesem Selbst-Opfer.

Wir finden in dieser Novelle viel Aspekte des Krebsthemas: Ehrgeiz, Karriere, isolierter Einzelgänger, Aberglaube, Wachstum und Profit, Naturgewalten die sich als unkontrollierbar herausstellen, Verantwortung für das Ganze im Gegensatz zu egoistischen Interessen, Schuld, nicht hinsehen und verdrängen, Selbstopfer zum Schutz des Kollektivs. Aber auch Liebe zu Natur und Tieren, Anmaßung und Stolz im Kampf gegen die Natur finden wir im Schimmelreiter.

In einem Satz: Ein ehrgeiziger Einzelgänger macht Karriere und begeht Selbstmord aus Schuldgefühlen, seiner Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein.

Natürlich erfolgt diese Nacherzählung und Interpretation aus meiner krebs-spezifischen Sicht, doch einige Zitate solle belegen, dass das zentrale Thema des Opfers durchaus in der Schimmelreiter-Rezeption zu finden ist.

Noch besser ist es aber vielleicht, wenn Sie selbst den Schimmelreiter lesen (https://www.projekt-gutenberg.org/storm/schimmel/schimmel.html); vielleicht geht es Ihnen wie mir und Sie und Sie sind von diesem Werk zwischen rationaler Neuzeit und abergläubischer Vorzeit fasziniert.

  • „Das Schicksal Hauke Haiens, des "Schimmelreiters„ ...  hatte Storm seit seiner Jugend bewegt. Es brauchte ein Menschenalter, bis er es erzählen konnte... Sein Scheitern bleibt indes persönliche Tragik, die Storm zum erlösenden Opfer werden läßt: `Herr nimm mich; verschon die andern !`„ [5]
  •  „Zur rationalen Leistung muss das Opfer treten, damit ein Mythos entsteht, der den Menschen Vertrauen zu ihren eigenen Fähigkeiten gibt“.[6]

Zum guten Schluß noch ein scheinbar harmloses Märchen:

Der kleine Häwelmann

Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann. Des Nachts schlief er in einem Rollenbett und auch des nachmittags, wenn er müde war; wenn er aber nicht müde war, so mußte seine Mutter ihn darin in der Stube umherfahren, und davon konnte er nie genug bekommen.

Nun lag der kleine Häwelmann eines Nachts in seinem Rollenbett und konnte nicht einschlafen; die Mutter aber schlief schon lange neben ihm in ihrem großen Himmelbett. »Mutter«, rief der kleine Häwelmann, »ich will fahren!« Und die Mutter langte im Schlaf mit dem Arm aus dem Bett und rollte die kleine Bettstelle hin und her, und wenn ihr der Arm müde werden wollte, so rief der kleine Häwelmann: »Mehr, mehr!«, und dann ging das Rollen wieder von vorne an. Endlich aber schlief sie gänzlich ein; und soviel Häwelmann auch schreien mochte, sie hörte es nicht; es war rein vorbei. – – Da dauerte es nicht lange, so sah der Mond in die Fensterscheiben, der gute alte Mond, und was er da sah, war so possierlich, daß er sich erst mit seinem Pelzärmel über das Gesicht fuhr, um sich die Augen auszuwischen; so etwas hatte der alte Mond all sein Lebtage nicht gesehen. Da lag der kleine Häwelmann mit offenen Augen in seinem Rollenbett und hielt das eine Beinchen wie einen Mastbaum in die Höhe. Sein kleines Hemd hatte er ausgezogen und hing es wie ein Segel an seiner kleinen Zehe auf; dann nahm er ein Hemdzipfelchen in jede Hand und fing mit beiden Backen an zu blasen. Und allmählich, leise, leise, fing es an zu rollen, über den Fußboden, dann die Wand hinauf, dann kopfüber die[339] Decke entlang und dann die andere Wand wieder hinunter. »Mehr, mehr!« schrie Häwelmann, als er wieder auf dem Boden war; und dann blies er wieder seine Backen auf, und dann ging es wieder kopfüber und kopfunter. Es war ein großes Glück für den kleinen Häwelmann, daß es gerade Nacht war und die Erde auf dem Kopf stand; sonst hätte er doch gar zu leicht den Hals brechen können.

Als er dreimal die Reise gemacht hatte, guckte der Mond ihm plötzlich ins Gesicht. »Junge«, sagte er, »hast du noch nicht genug?« – »Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr! Mach mir die Tür auf! Ich will durch die Stadt fahren; alle Menschen sollen mich fahren sehen.« – »Das kann ich nicht«, sagte der gute Mond; aber er ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fallen; und darauf fuhr der kleine Häwelmann zum Hause hinaus.

Auf der Straße war es ganz still und einsam. Die hohen Häuser standen im hellen Mondschein und glotzten mit ihren schwarzen Fenstern recht dumm in die Stadt hinaus; aber die Menschen waren nirgends zu sehen. Es rasselte recht, als der kleine Häwelmann in seinem Rollenbette über das Straßenpflaster fuhr; und der gute Mond ging immer neben ihm und leuchtete. So fuhren sie Straßen aus, Straßen ein; aber die Menschen waren nirgends zu sehen. Als sie bei der Kirche vorbeikamen, da krähte auf einmal der große goldene Hahn auf dem Glockenturm. Sie hielten still. »Was machst du da?« rief der kleine Häwelmann hinauf. – »Ich krähe zum erstenmal!« rief der goldene Hahn herunter. – »Wo sind denn die Menschen?« rief der kleine Häwelmann hinauf. – »Die schlafen«, rief der goldene Hahn herunter, »wenn ich zum drittenmal krähe, dann wacht der erste Mensch auf.« – »Das dauert mir zu lange«, sagte Häwelmann, »ich will in den Wald fahren, alle Tiere sollen mich fahren sehen!« – »Junge«, sagte der gute alte Mond, »hast du noch nicht genug?« – »Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!« Und damit blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zum Stadttor hinaus[340] und übers Feld und in den dunkeln Wald hinein. Der gute Mond hatte große Mühe, zwischen den vielen Bäumen durchzukommen; mitunter war er ein ganzes Stück zurück, aber er holte den kleinen Häwelmann doch immer wieder ein.

Im Walde war es still und einsam; die Tiere waren nicht zu sehen; weder die Hirsche noch die Hasen, auch nicht die kleinen Mäuse. So fuhren sie immer weiter, durch Tannen- und Buchenwälder, bergauf und bergab. Der gute Mond ging nebenher und leuchtete in alle Büsche; aber die Tiere waren nicht zu sehen; nur eine kleine Katze saß oben in einem Eichbaum und funkelte mit den Augen. Da hielten sie still. »Das ist der kleine Hinze! « sagte Häwelmann, »ich kenne ihn wohl; er will die Sterne nachmachen.« Und als sie weiterfuhren, sprang die kleine Katze mit von Baum zu Baum. »Was machst du da?« rief der kleine Häwelmann hinauf. – »Ich illuminiere!« rief die kleine Katze herunter. – »Wo sind denn die andern Tiere?« rief der kleine Häwelmann hinauf. – »Die schlafen«, rief die kleine Katze herunter und sprang wieder einen Baum weiter; »horch nur, wie sie schnarchen!« – »Junge«, sagte der gute alte Mond, »hast du noch nicht genug?« – »Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!« Und dann blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete; und so fuhren sie zum Walde hinaus und dann über die Heide bis ans Ende der Welt, und dann gerade in den Himmel hinein.

Hier war es lustig; alle Sterne waren wach und hatten die Augen auf und funkelten, daß der ganze Himmel blitzte. »Platz da!« schrie Häwelmann und fuhr in den hellen Haufen hinein, daß die Sterne links und rechts vor Angst vom Himmel fielen. – »Junge«, sagte der gute alte Mond, »hast du noch nicht genug?« – »Nein!« schrie der kleine Häwehnann, »mehr, mehr!« Und – hast du nicht gesehen! fuhr er dem alten guten Mond quer über die Nase, daß er ganz dunkelbraun im Gesicht wurde. »Pfui!« sagte der Mond und nieste dreimal, »Alles mit Maßen!« Und damit putzte er seine Laterne aus, und alle Sterne machten die Augen zu. Da wurde es im ganzen[341] Himmel auf einmal so dunkel, daß man es ordentlich mit Händen greifen konnte. »Leuchte, alter Mond, leuchte!« schrie Häwelmann, aber der Mond war nirgends zu sehen und auch die Sterne nicht; sie waren schon alle zu Bett gegangen. Da fürchtete der kleine Häwelmann sich sehr, weil er so allein im Himmel war. Er nahm seine Hemdzipfelchen in die Hände und blies die Backen auf; aber er wußte weder aus noch ein, er fuhr kreuz und quer, hin und her, und niemand sah ihn fahren, weder die Menschen noch die Tiere, noch auch die lieben Sterne.

Da guckte endlich unten, ganz unten am Himmelsrande ein rotes rundes Gesicht zu ihm herauf, und der kleine Häwelmann meinte, der Mond sei wieder aufgegangen. »Leuchte, alter Mond, leuchte!« rief er. Und dann blies er wieder die Backen auf und fuhr quer durch den ganzen Himmel und gerade drauflos. Es war aber die Sonne, die gerade aus dem Meere heraufkam. »Junge«, rief sie und sah ihm mit ihren glühenden Augen ins Gesicht, »was machst du hier in meinem Himmel?« Und – eins, zwei, drei! nahm sie den kleinen Häwelmann und warf ihn mitten in das große Wasser. Da konnte er schwimmen lernen.

Und dann?

Ja und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!

[7]

Dieses Märchen erzählt von einem verwöhnten Kleinkind, das ohne Rücksicht auf seine überarbeitete und müde Mutter immer Mehr, Mehr fordert und alle Menschen, alle Tiere sollen diesen tollen Kerl sehen, der die Naturgesetze außer Kraft setzt. Ungeduldig und unzufrieden mit der mangelden Anerkennung und Bewunderung hat er nie genug und findet Miteiferer in der kleinen Katze Hinze, die die Sterne nachmachen will und in Fremdwörtern spricht: Ich illuminiere!

Und dann ist er plötzlich allein im Himmel, und niemand sieht ihn fahren und er bekommt Angst und zum Schluß müssen Du und ich ihn (und seine Welt) retten.

Soviel vorerst zu Theodor Storm und seinem großen Werk, vielleicht wenden wir uns später noch mal der Regentrude, dem Immensee und anderen Werken zu, mal schaun. Interessant finde ich, dass Krebsthemen schon lange vor der Diagnose und vermutlich auch vor dem Auftreten seiner Krebskrankheit zu entdecken sind.

Rene Freund, Ans Meer

Es ist ein ziemlich übler Tag im Leben von Anton, dem Fahrer eines Linienbusses auf dem Land. Vor kurzem hat er sich verliebt: in Doris, seine Nachbarin. Doch letzte Nacht hat er auf ihrem Balkon einen Mann husten gehört. Dann steigt auch noch die krebskranke Carla in den Bus, die ein letztes Mal das Meer sehen möchte, und zwar sofort. Es ist heiß, und die Gedanken rasen in Antons Kopf. Mut gehört nicht zu seinen Stärken, aber hatte Doris nicht gesagt, dass sie Männer mag, die sich etwas trauen? Wenig später hören die Fahrgäste im Linienbus eine Durchsage: „Wir fahren jetzt ans Meer.“ Ein herzerwärmendes Buch voller Humor über eine bunt gemischte Schar von Fahrgästen auf ihrer Reise in den Süden. [8]

Diese gelungene Zusammenfassung des Buches vom österreichischen Autor Rene Freund kann uns neugierig auf die Lektüre machen!

Aber schauen wir mal aus krebsiger Sicht auf den Inhalt:

Anton ist Busfahrer und fährt immer die gleiche Strecke. Deswegen ist er auch Gewohntes gewohnt und hat Schwierigkeiten, sich mit der netten aber ungewöhnlichen Nachbarin Doris einzulassen. Auch ist Mutti noch immer die vorherrschende Frau in seinem Leben unter deren Kontrolle und Domination – täglich mehrere Anrufe überfüllt mit guten Ratschlägen – er aber auch irgendwie leidet.

Und „Ein Busfahrer trägt viel Verantwortung. Vor allem ein Linienbusfahrer“(S.7). Denn der weicht nicht und niemals von seinem Fahrplan ab, auch nicht wenn eine sterbenskranke Frau ihn bittet, sie mal eben an die italienische Adria zu kutschieren.

Denn deren Mann verweigert seiner krebskranken Frau Carla, noch einmal ans Meer ihrer Heimat zu fahren. Sie will nach San Marco, einen kleinen Ort in der Nähe von Duino ( wo übrigens der später an Krebs verstorbene Rilke seine Duineser Elegien schrieb, aber das ist sicher nur Zufall!) und wo es in einer kleinen Kirche eine Heilquelle gibt, der Haut- und Geschwürsheilungen nachgesagt werden. Aber diese vage Heilungshoffnung ist gar nicht das treibende Motiv für Carla, sie möchte halt nur noch einmal zu der Bucht, in der ihr Traum von der romantischen Liebe begann, der nun so hoffnungslos an der angstbesetzten Liebe ihres Mannes zerschellt. Der fände es – wie gesagt - verantwortungslos, mit seiner schwerkranken Frau so eine weite Reise zu unternehmen. Also bleibt für Carla nur der Linienbus von Anton. Nicht wissend, dass der nie = NIE von seinem FahrplaN abweicht.

Allerdings sind kürzlich zwei Dinge geschehen, die Anton nun doch dazu bewegen, das Steuer-Ruder herumzureißen und gen Adria zu segeln:

  1. Die Nachbarin Doris, die mutige Männer mag und
  2. Der drohende Rauswurf aus dem Busunternehmen, weil er vor kurzem einen bösen Buben die Weiterfahrt verwehrte.

Carla überzeugt also tatsächlich den eigentlich buslinientreuen und  verantwortungsbewussten Anton, sie an die Adria zu fahren, damit sie noch einmal die Bucht ihrer grossen Liebe sehen kann.

Zufällig mit im Bus sind noch ihre Tochter Annika, die ihre Mutter dann natürlich begleiten will und deren altkluge Freundin Helene, die ihre Freundin wiederum nicht im Stich lassen will.

Deren Bruder Ferdinand findet es zwar verantwortungslos, einfach gen Süden abzudampfen, entscheidet sich dann aber doch aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber seiner Schwester im Bus zu bleiben.

Ferner findet sich noch eine demente alte Dame, die durch ihre Fähigkeit, im Moment zu leben – und zwar nur noch dort! – immer wieder für Aufregung und heitere Szenen sorgt, aber gerade dadurch ein scheinbar cooles Grufti-Girl aus ihrer Sarg-Düsternis an ihre Seite und zurück ins Leben holt. Die Bus-Belegschaft ist schon eine irre Kombination!

Dies ist ein durch und durch heiteres, lebensbejahendes aber nicht esoterisch in höhere Sphären abschwurbelndes Buch, das nicht nur die bekannten Krebs-Themen widerspiegelt, sondern auch tiefere Ebenen der Krebsthematik erfasst, wie z.B. der folgende Abschnitt über die Zeit, die Ewigkeit und das Warten:

„Das Warten … das Warten ist das Mühsamste. Warum muss ich schon wieder warten?, fragte sich Doris. Stau und kein Ende. Dabei ist ja Warten eigentlich etwas ganz Normales. Andererseits etwas ganz Sinnloses. Im Prinzip kommen wir auf die Welt, und damit beginnt das Warten. Wir warten zuerst darauf, dass wir abgenabelt werden, dann auf den ersten Schluck Muttermilch…..Danach warten wir auf die Schule. Nach zwei Tagen Schule warten wir darauf, dass die Schulzeit endlich und für immer vorbei ist. Zwischenzeitlich warten wir auf den ersten Kuss. Immer warten wir auf schöneres Wetter. Wir warten auf den Zug, auf den Rauchfangkehrer und im Zahnarztwartezimmer. Wir warten hoffnungsfroh auf bessere Zeiten, und wir warten bange auf das Ende der besseren Zeiten. Wir warten auf höheren Lohn, auf die Lottomillion, auf die Pension und auf den Tatort am Sonntag. Wir warten nächtelang, dass der Schlaf kommt. Wir warten auf die Pizza, auf das Bier, und letztendlich warten wir auf den Tod. Na ja, auf den Tod warten wir vielleicht nicht, aber er erwartet uns.

Nur das Warten auf Anton, das Warten auf Anton fand Doris manchmal mühsam, besonders in der ersten Zeit ihres Zusammenseins. Und so lang war es ja nicht gewesen, ihr Zusammensein, gerade einmal drei Wochen! Was sollte da das bisschen Warten schon ausmachen? Sie wusste immer, wo er war. Sie konnte ihm WhatsApp schreiben, und wenn er eine kleine Pause hatte, antwortete er sofort.“ [9]

So können wir unser ganzes Leben verwarten, anstatt es zu leben! Und zwar in Freude zu leben:

„Außerdem weiß ich doch schon lange, dass dir dein Job keine Freude mehr macht. Sieh mich an. Ich habe jeden Tag Freude. Ein Tag ohne Freude ist ein verlorener Tag. Du bist zwar gesund, aber auch du weißt nicht, wie viele Tage du noch vor dir hast.«“ [10]

Wie das Buch ausgeht? Wie alle Bücher, die Sie unbedingt selbst lesen sollten????

Krebsthemen gibt es in „Ans Meer“ einige : Verantwortung, Kontrolle, Perfektion, Normalität, Regeln, Gesetze, Ungerechtigkeit und Ordnung, Opfer, plötzlich nicht mehr altruistisch sein und natürlich auch kämpfen und aufgeben!

Unerwähnt oder Nebenthemen bleiben andere Krebsthemen: Mission und Remission, Schuld, Isolation und Kommunikation, Unsterblichkeit, Hinsehen und Wegsehen, Schock, Angst.

Mögen Sie mich kurz noch in die Kapelle von Duino begleiten?

Schon immer wollte ich mal nach Duino um zu schauen, wo Rilke es sich im Schloss auf Kosten der Prinzessin Marie zu Hohenlohe mehr oder minder gut gehen liess.

Und die Beschreibung von Rene Freund in „Ans Meer“ machte Lust auf die Kapelle, in deren Apsis angeblich eine Quelle entspringt.

Das Schloss Duino liegt wirklich sehr schön, ein weißer Palast an den Klippen der Adria. Mit einem Bus über gefühlte 70 Stationen von Triest aus (Es gab einen Schnellbus, den uns aber die hilfreichen Triester Senioren unabsichtlich vorenthielten und stattdessen mit uns aber und vorneweg! durch die - ebenfalls gefühlt - halbe Stadt hetzten) gelangten wir zu der tatsächlich sehr idyllisch liegenden Kapelle (Chiesa San Giovanni in Tuba neben denTimavo-Quellen). Ihr Inneres ist sehenswert und hat etwas Besonderes: umrahmt von grünen Gräsern und Moosen quillt dort scheinbar eine Quelle in wohltuender Stille aus dem  Grund der Apsis.[11]

Eigentlich ist es aber in Wirklichkeit keine Quelle, sondern ein Teil des Flusses Timavo, der  40 Kilometer landeinwärts vor dem Karstgebirge im Boden verschwindet und hier wieder zu tage tritt, quasi als Wiedergeburt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass einige Krebskranke ihr Überwinden der Krebskrankheit als eine Wiedergeburt beschreiben.

Tiefenpsychologisch bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Zeit der Wiedergeburt, der Renaissance eine Kulturepoche benennt, in der erstmals seit vielen Jahrhunderten wieder in der Kunst Individuen also Ich-Personen erkennbar wurden. Diese Ich-Konzentration steigerte sich über alle Kunstepochen zur heutigen Egomanieund Ich-Besessenheit, die einen der Pole im Krebsgeschehen bildet: `Mir solls gutgehen, der Rest interessiert mich nicht` ist das Lebensmotto der Krebszelle und dies steht im exakten Gegensatz zu Lebensfreude, die ihr Glück im Großen Ganzen zu finden versteht: In der Natur, den Menschen, Tieren und Pflanzen.

Noch ein paar Zeilen zum Autor Rene Freund, mit dem ich vor zwei Jahren einen interessanten Mailwechsel führte, für dessen Offenheit und persönliche Tiefe ich mich hier noch einmal ausdrücklich bedanke:

Er ist ein fleissiger und erfolgreicher Autor, der seit vielen Jahren die deutschsprachige Kulturszene belebt. Ich staune immer wieder, wie intuitiv Künstler wie Herr Freund, die Themen des Krebs erfassen und kreativ umsetzen. Sein „Ans Meer“ ist wirklich ein Buch, das Lesefreude bereitet.

Näheres zu Herrn Freund https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Freund

Karolin Kolbe, Und plötzlich steht Dein Leben auf Null

Karolin Kolbe, 1993 in Kassel geboren, denkt sich Geschichten aus, seitdem sie Kassetten aufnehmen und Buntstifte halten kann. Mit der Grundschulzeit begann das Aufschreiben und lässt sie nun nicht mehr los. Nach ihrem Abitur zog sie für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr nach Berlin, wo sie nun studiert. Die Autorin liebt interessante Menschen, gute Gespräche, spannende Bücher und Filme, bunte Farben, blühende Natur und die Sonne.

https://claudiasbuecherhoehle.de/?p=1305

Der Klappentext bzw. die Werbung:

Diagnose Krebs! Dieses Schicksal vereint Ella, Luise und Sina, auch wenn sie sonst grundverschieden sind und sich gerade in unterschiedlichen Lebensphasen befinden. Sie kämpfen gemeinsam gegen ihr Schicksal, trösten sich und geben sich gegenseitig Halt während der Therapie. Mit Netflix-Abenden im Krankenhaus, heimlichen Ausflügen und einer Überraschungsparty auf Station versuchen sie, das Beste aus der bedrückenden Lage zu machen. Und für Ella birgt diese schwere Zeit sogar eine ganz besondere Chance: Sie hat Schmetterlinge im Bauch – trotz Port unter dem Herzen …

Claudia fasst den Inhalt kurz und präzise zusammen:

Ella ist 18 Jahre alt und steht kurz vor ihrer Knie-OP, die einen Tumor beseitigen soll.

Luise ist 16 Jahre alt – bei ihr wurde ein Hirntumor diagnostiziert.

Sina ist 14 Jahre alt und sie durchläuft wegen eines Lymphom-Rezidivs das zweite Mal die ganze Therapie-Sache.

Drei wirklich starke Mädchen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Sina ist vor allem genervt und gegen fast alles. Ihre Mutter meint es nur gut mit ihr, übertreibt dabei aber stellenweise. Das bekommt auch Sinas Vater zu spüren …

Luise hat Halt durch ihre getrenntlebenden Eltern und ihren Bruder Jakob. Augenscheinlich nimmt sie die Chemo und alles, was damit zusammenhängt ganz locker. Aber kann man Krebs locker nehmen?

Ella ist relativ pragmatisch und hat neben der Diagnose auch noch die Sorge mit gewissen Kosten, die im Zusammenhang mit Transport und der Therapie an sich stehen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber dadurch, dass die Mädchen im Grunde das gleiche Schicksal teilen, rücken sie zusammen und geben sich gegenseitig Halt. Eine wunderbare Freundschaft entsteht.

https://claudiasbuecherhoehle.de/?p=1305

Aus Sicht der Krebssprache fällt auf, dass der Wunsch normal zu sein bei den Protagonistinnen stark zu spüren ist: 30 mal verwendet die Autorin Karolin Kolbe Begriffe in denen das Stammwort Normal enthalten ist. Das Verlangen normal zu sein ist natürlich generell ein grosses Thema in der Pubertät: inwieweit versuche ich gleichzeitig normal und besonders zu sein, schwieriges Unterfangen. Aber selbst für ein Buch in „Krebssprache“ ist das ziemlich häufig. Dabei sind alle drei Haupt-Charaktere wirklich gelungen besonders!

Das zweite wichtige große Thema ist, wie mutig, geschickt und witzig die Protagonistinnen der Krebs-Falle Isolation entgehen. Sie schliessen sich trotz ausgeprägter charakterlicher Unterschiede zusammen, zum Teil sogar gegen die Außenwelt.

Auch die Frage, wie Menschen die von unkontrolliertem Wachstum bedroht sind mit Regeln und Kontrolle umgehen, wird stark thematisiert. Ich befürchte aber, dass die PflegerInnen und Ärztinnen doch ziemlich idealisiert wurden, in ihrer Bereitschaft Risiken für die Patientinnen einzugehen. Schön wärs, wenn in allen Krebs- und Palliativstationen der Einzelne mit seinen individuellen Bedürfnissen so gesehen würden.

Begriffe wie Fair/Unfair stehen jugendsprachlich gesehen für die Thematik gerecht/ungerecht.

Am Rande kommen die Krebs-Heldinnen auch nicht um die Auseinandersetzung "kämpfen oder aufgeben" herum, allerdings wird hier die Notwendigkeit des Kämpfen lernens gerade für diejenigen Menschen, die harmoniesüchtig jedem Streit aus dem Weg gehen, nicht beschrieben.

Am Rande taucht auch das Opfer-Thema auf, und wünschenswerter Weise nicht als bewundernswerte Eigenschaft sondern als nazistische Selbstwahrnehmung einer Mutter.

Insgesamt ein gelungenes Jugendbuch, sicher auch so authentisch, weil die Autorin selbst Krebs hatte.

Exkurs zum Thema Spinnen:

"Das Spannendste, was passiert, ist, wenn sich eine Fliege im Spinnennetz über mir verfängt." [12]

Im Repertorium der Homöopathie finden wir unter "Furcht vor Spinnen" neben anderen Arzeimitteln Carcinosinum, die aus Brustkrebssekret hergestellte homöopathische Arznei ( vor deren laienhafter Anwendung bei Krebs ich hier nur dringendst warnen kann), die den "Geist des Krebses" widerspiegelt.

Ich habe jahrelang immer wieder bei Menschen, die diese Arznei benötigen, die Spinnenphobie festgestellt, sie ist eine der weit verbreiteten Phobien in heutiger Zeit und ich habe mich oft gefragt, was Spinnen mit Krebs zu tun haben? Auf einem International Teachers Meeting in den 90igern nahe Amsterdam beobachtete ich eine Fliege, die sich im Netz einer Spinne gefangen hatte. Schlagartig wurde mir klar: es ist die Fliege, mit der Spinnenangst geplagte Menschen sich identifizieren. Sie fühlen sich in einem Netz gefangen und haben verzweifelte Angst, dem sich nähernden Tod in Gestalt der Spinne nicht ausweichen zu können. So ähnlich mögen sich krebskranke Menschen fühlen?

Spinnen scheinen genell, neben Krebsen (besonders sein? Gehen seitwärts), Haien (Aggression), Schmetterlingen (Metamorphose) und Tauben (Botschafter Gottes) ein Krebsthema zu sein. Ich vermute, dass ihr Krebsthema die Ähnlichkeit zwischen Spinnen und Krebs ist.

„Forscher: Spinnengift bringt Hoffnung im Kampf gegen Krebs

Zoologe Michel Dugon untersucht die Wirkung von Spinnengift (hier mit einer Tarantel).

(Aengus McMahon)

Gift von irischen Spinnen kann von medizinischem Nutzen sein. Das Gift mancher Spinnen sei beispielsweise wirksam, um Kolibakterien zu bekämpfen, sagte Michel Dugon dem BBC Radio Ulster. Der Zoologe forscht an der National University of Ireland in Galway.  

In Irland gebe es rund 400 Spinnen. Das Gift von mindestens zwei Spinnenarten, die er und seine Kollegen untersucht haben, könne medizinisch eingesetzt werden, sagte Dugon. Für den Menschen seien die Spinnen gleichwohl ungefährlich.“[13]

Und „Spiderman“ wenden wir uns an anderer Stelle noch einmal zu!

 


 

[1] Ursula Nuber, Die Egoismusfalle. 1993, S. 82

[1] Vergleiche Prof. Dr. Gerald Hüther: Die Macht der Inneren Bilder

[3] Haie gehören angeblich zu den aggressivsten Tieren, eine Fehlannahme, die zur rücksichtslosen Ausrottung beiträgt. Weitere Gerüchte sagen, daß ihre Knorpel gegen Krebs helfen können, Haie keinen Krebs bekommen können. Haie eignen sich zur Legendenbildung. Sie gehören nach C.G. Jung zu den Archetypen, die in allen Kulturen weltweit starke Bedeutungsträger sind.

[4] Theodor Storm, Der Schimmelreiter in „Meer und Heide“, 1951

[6] H. Himmel über "Schimmelreiter" , zitiert nach Kindlers Literaturlexikon

[9] Rene Freund, Ans Meer, S. 39-40

[10] Derselbe, S.17

[12] Karolin Kolbe, und plötzlich steht Dein Leben auf Null, S. 86