Lebenskrisen eines Spätentwicklers
Calcium-carbonicum und "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny
Sten Nadolny erzählt in seinem Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" die Lebensgeschichte des englischen Seefahrers und Nordpolforschers John Franklin unter einem ganz besonderen Aspekt: "John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte." (S.9, Vergl.: Synthetisches Repertorium S.931: slowness in motion: u.a. Calcium).
Mit diesem Satz beginnt er seinen Roman und umreißt die Thematik: John Franklin macht alles ganz langsam, aber dafür ganz genau (Vergl.: SR: S.: 180: conscientious about trifles: u.a. Calcium); die Zeit der anderen ist nicht seine Zeit, und er muss üben, üben, üben, sein ganzes Leben lang, um Handlungsabläufe, die bei anderen Menschen automatisch ablaufen, bewusst aneinanderzureihen. Mit anderen Worten: er lernt langsam, aber gründlich, denn Fehler kann er sich nicht leisten. Er arrangiert sich schließlich mit seinem Handicap, als er erkennt: "Wenn es stimmte, dass einige Menschen von Natur langsam waren, dann sollten sie auch so sein." (S.127)
Schon früh wird der junge John von Reiselust geplagt (Vergl.:S.R. S.1O30: desire to travel: u.a. Calcium), reißt auch einmal von zu Hause aus und setzt alles daran, um Seemann zu werden.
Wegen seiner Gründlichkeit und Hartnäckigkeit gelingen ihm der Schulabschluss und die Aufnahme in die Schule für Seekadetten. Eigentlich ist er ein friedliebender Mensch. Als er aber bei einer Seeschlacht in Notwehr einen Gegner erdrosselt, stellt er entsetzt fest, dass er auch in grausamen Handlungen gründlich ist.
Franklin arbeitet sich mühsam die Karriereleiter hoch und verfolgt hartnäckig seinen Kindheitstraum, zum Nordpol zu fahren, um die von der seefahrenden Welt gesuchte Nordwestpassage zu finden.
Auf seiner ersten Nordfahrt erkrankt er: "John Franklin hatte Fieber und fröstelte. Im Halbschlaf hörte er zahllose Stimmen, die Unverständliches mitteilten, Entscheidungen verlangten oder Kritik an etwas übten, was er angeblich angeordnet hatte. Er warf sich hin und her, knirschte im Traum mit den Zähnen (Vergl.: Kents Repertorium Generale Bd. 2, S 376: Zähneknirschen im Schlaf: u.a. Calcium), schwitzte die Decke durch (Vergl.: K.R.G. Bd 3, S.1O98: Schweiß, reichlich: u.a. Calcium)." (S. 186)
Ihm wird schließlich klar; dass die Suche nach der Passage nur das vordergründige Ziel ist: "Das Ziel war wichtig gewesen um den Weg zu erreichen. Den hatte er nun... Er hatte nur die Sehnsucht, unterwegs zu bleiben, genau wie jetzt, auf Entdeckungsreise bis das Leben vorbei war." (S.197) .
Nach jeder Rückkehr bleibt er trotzdem unzufrieden und taktiert hartnäckig und geschickt zur Durchsetzung seiner nächsten Reise. "Du hast nachts mit den Zähnen geknirscht, du hast Sorgen" (S.305) durchschaut ihn seine Frau.
Obwohl alle Versuche scheitern, die Nordwestpassage zu finden, wird er ein berühmter Mann, bekannt dafür, dass er nie aufgibt.
Diese Fähigkeit wird ihm und seiner Mannschaft schließlich zum Verhängnis: von seiner vierten Reise kehrt niemand zurück. "Sie gingen sämtlich nach jahrelangem Kampf gegen das Packeis zugrunde." (Klappentext)
Anhand Franklins Lebenslauf bietet uns Nadolny eine einfühlsame, von tiefsten Wesenszügen bis zu körperlicher Symptomatik reichende Beschreibung eines Calcium-geprägten Menschen. Er reißt das Spannungsfeld zwischen den Polen Sesshaftigkeit und Reiselust auf, lässt uns die Lebenskrisen eines Spätentwicklers miterleben und kristallisiert die Schwächen (Langsamkeit und Unbeholfenheit) und Stärken (Gründlichkeit und Hartnäckigkeit) des Calcium-Wesens heraus.
Da nicht nur für uns Homöopathinnen Echtheit ein Qualitätsmerkmal guter Literatur ist, empfehle ich dieses Buch sowohl zum Arzneimittelstudium als auch zur Entspannung.
(Ich interessiere mich für alle Arzneimittelbilder und -typen, die wir in der Kunst antreffen können - Texte, Bilder, Musik und ihre Produzenten - und bin für entsprechende Hinweise sehr dankbar.)
Helmut Ossege, Jüdenstr.21, 37073 Göttingen
Literatur:
Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1983
Hrsg. Horst Barthel: Synthetisches Repertorium, Heidelberg 1973
Hrsg. Künzli/Barthel: Kent's Repertorium Generale, Berg, 1986
Mac Repertory
HZ 11/94, S. 62