Das Problem, in die Welt hinauszugehen
Calcium carbonicum in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer"
Daß dieses Kinderbuch etwas mit Calcium carbonicum zu tun haben könnte, entdeckte ich vor Jahren in der Anamnese eines Patienten, dem Calc seinen Hautausschlag geheilt und über seine Angst vor der Welt hinweg geholfen hatte: Sein Lieblingskinderbuch war dieses — einer ganzen Generation von Kindern durch die Augsburger Puppenkiste und das Fernsehen bekannte — Frühwerk von Michael Ende, der kürzlich an seinem Krebsleiden starb. Natürlich lassen sich in jedem Kinderbuch Aspekte von Calc finden, da es eines der großen Kindermittel schlechthin ist. Doch handelt es sich bei diesem Buch um einen kapitalen Calc-Spender und ich möchte Sie ermutigen, sich noch einmal in die kindliche Lesesituation zu begeben; der Herbst und der Winter laden uns dazu ein, mit einem heißen Kakao und jeder Menge Schokolade-Keksen bewaffnet uns auf dem Bauch liegend vor dem Ofen oder auf unserem Babyfell mit Jim Knopf und Lukas auf die gefährliche Abenteuerreise zu begeben. Wir brauchen keine Angst zu haben: wenn es zu spannend wird, können wir das Buch ja zuklappen.
Doch zunächst befinden wir uns noch nicht auf der Reise, es gibt auch gar keinen Grund, aus Lummerland wegzugehen. Es ist nämlich ein idyllisches Land, mit zwei Bergen, zwei Häusern, einer Bahnstation und einem Schloß. Es erinnert uns an die Spielzeugeisenbahn, die uns in ihrer Überschaubarkeit eine heile Spiel-Welt anbot, in der selbst Eisenbahnunglücke nichts Erschreckendes an sich hatten. Lummerland ist ein kindliches Phantasie-Schlummerland, in dem die wenigen Bewohner voll friedlicher Absichten ihrem geregelten Leben nachgehen (Verräterische Sprache. „Seinem Leben nachgehen" bedeutet: seinem Leben hinterherlaufen, es nicht leben!) Eine Friede-Freude-Eierkuchen-Idylle, in der die Welt nicht nur morgens um sieben noch in Ordnung ist. Es hat einen Haken, dieses Ländchen, es ist sehr klein, „ungefähr doppelt so groß wie unsere Wohnung" (S.3) und spiegelt damit eine Wahnidee von Calc, daß ihm schon ein Zimmer zum ganzen Haus wird (S.R., S.344). In solch ein Zimmer projiziert Calc ein ganzes Haus, in eine Wohnung ein ganzes Land, in eine Stadt die ganze Welt, denn das große Unüberschaubare verliert seine Bedrohlichkeit, wenn ich es den gleichen Maßstäben und Prinzipien unterordnen kann, wie sie meine kleine überschaubare Kinderwelt regieren. Doch nun zu den Handlungsträgern: Jim Knopf ist ein kleines schwarzes Findelkind, das in diese Calc-Idylle durch eine Verwechslung, genauer gesagt, durch eine nahezu unleserliche Handschrift (Schreibenlernen spät?) hineingerät; er wird , für Lummerland zum Fremdkörper, aus dem, trotz der Unruhe, die er in die Beschaulichkeit bringt, eine echte Perle wird: ein pfiffiger und beweglicher kleiner Kerl (vielleicht Sulf), der in dem dicken, gemütlichen, bärenstarken Lukas einen „Freund fürs Leben" findet. Die Bewohner von Lummerland sind: König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, ein ziemlich guter König, der meistens saß; Frau Waas, die in ihrem Kramladen u.a. „Kaugummi, Milch, Spinat, Zucker, Salz" (S. 8) verkaufte und Herr Ärmel, der hauptsächlich Untertan war und regiert wurde. Damit hätten wir schon alles kennengelernt, was sich in Lummerland bewegt und dadurch einem Calc-Menschen Angst machen könnte. Halt, da hätten wir doch fast die Emma vergessen, DAS Calc-Symbol schlechthin: eine Lokomotive, dick und rund wie Frau Waas und Lukas zusammen, schwerfällig, behäbig, durch eine dicke Eisenhaut vor der Umwelt geschützt und sehr sensibel. Sie pfeift genauso wie Lukas und Jim gern (whistling, MR) und sie ist eine Tender-Lokomotive, das bedeutet, daß sie ihren Essensvorrat immer dabei hat. Darum ist sie so dick, daß sie in der Lage ist, durch Rammen einen Drachen zu bekämpfen (so wehren sich Calc-Dickerchen: sie rennen den Gegner um und setzen sich drauf) und ein kleines Lokomotivenkind zu bekommen, ohne daß man ihr vorher etwas ansieht. Und natürlich besitzt sie die zentrale Lokomotiven-Eigenschaft: es dauert lange, bis sie richtig in Fahrt kommt und ihr Bremsweg ist genauso lang. Eine meiner ersten Patientinnen schilderte das so: Am Samstag komme sie nicht richtig zur Ruhe, da sie noch dieses und jenes erledige und erst am Samstagabend spät zum Verschnaufen komme. Am Sonntagnachmittag werde sie dann schon wieder unruhig, sie spüre die vor sich liegende Woche wie einen Berg. Und da mußte sie den Kessel natürlich wieder einheizen, damit es am Montagmorgen wieder Volldampf voraus losgehen konnte.
Nun macht sich der König aber Sorgen (full of cares, MR ), so wie sich Calc nun mal oft sorgt (S. 18, 20, 23, 60, 123, 243, usw.): Lummerland wird durch die Perle Jim zu eng, der Platz reicht einfach nicht für alle und damit kommt die Geschichte langsam ins Rollen. Leicht beleidigt (easily offended, MR) durch das Ansinnen des Königs, Lukas möge sich aus Platzgründen von seiner Emma trennen (ailments from death of ..., MR) begeben sich Lukas und Jim Knopf auf die Reise ins Ungewisse (um courageous zu sein, muß sich Calc-Lukas schon mit Jim-Sulf verbinden : calc-sulf, MR). Bei Calc finden wir zwar bekanntlich das Verlangen zu Reisen, aber es bleibt eben auch meistens bei dem Verlangen. Die erste Station auf ihrer Reise ist das Land Mandala. Ein Mandala ist ein Symbol für die Beziehung zwischen Mensch und Welt; dieses Thema ist bei Calc m.E. von zentraler Bedeutung: Calc-Kinder haben Probleme, in die Welt hineinzugehen und im Alter hilft Calc den Menschen, sich von der Welt wieder zurückzuziehen (Vergl. H. Ossege: Kranksein, Heilen, Gesundsein). In Mandala werden die Menschen sehr alt, ihr körperlicher Wachstumsprozeß verläuft langsam, aber da sie ein sehr kluges Volk sind, sind sie „mit einem Jahr schon so gescheit, daß sie herumlaufen und ganz normal reden können."(precocity, MR) Doch die Mandalanier haben ein Problem: sie sind zwar sehr klug, aber auch sehr feige (cowardice, MR), so daß sie sich nicht trauen, die ins Land der Drachen entführte Prinzessin zu befreien. Lukas und Jim übernehmen diese Aufgabe und haben auf dem Weg in die Drachenstadt viele Abenteuer zu bestehen.
Es lohnt sich, eines von ihnen genauer anzusehen, weil es eine typische Calc-Qualität beleuchtet. Ihr Weg führt sie durch ein eiskaltes, pechraben-schwarzes Gebirge, das so schwarz ist, daß es alles Licht verschluckt. Will man hindurch, so darf man nur stur geradeaus fahren auf der schnurgeraden Straße. Selbst das Licht der Scheinwerfer von Emma wird von den schwarzen Felsen verschluckt, es wird kalt und kälter und plötzlich steht Emma still. Sie spürt, daß sie vom Weg abgekommen ist und traut sich nicht vor und zurück. „Sie warteten und warteten, und dabei überlegten sie beide angestrengt, was zu tun wäre. Aussteigen konnten sie nicht wegen der Kälte. Außerdem hätte es ja auch nichts genützt. Rückwärtsfahren ging nicht, denn Emma wagte nicht die kleinste Bewegung, weder vorwärts noch zurück (fear in dark + fear high places, MR). Was sollten sie tun? Nichts konnten sie tun. Aber sie mußten irgend etwas unternehmen! Jede Sekunde, die sie verloren, brachte sie dem Augenblick näher, wo die Kohlen zu Ende waren."(S. 142)
Kopflose Aktivitäten hätten sie das Leben gekostet. So warteten sie und bewiesen Geduld, sie saßen die Situation aus. Denn der Dampf aus Emmas Schornstein wurde im eiskalten Gebirge zu Schnee und bedeckte die schwarzen Felsen ringsum, so daß sie das Licht der Sonne und der Scheinwerfer wieder reflektierten und Lukas den Weg wieder finden konnte. (Eine Klasse-Qualität, diese Geduld, gefährliche Situationen aussitzen zu können, nicht nur für führende Politiker. Auch in unserem Beruf würde mehr Geduld weniger überbehandelte Patienten zur Folge haben.) Schließlich gelangen sie in die Drachenstadt zu Frau Malzahn (teeth, grinding, in sleep, MR), die die Prinzessin und andere Kinder entführen ließ, um ihnen durch Zucht und Ordnung die Freuden der Kindheit zu vermiesen (Jürgen Becker bezeichnete meines Wissens in einem Calc-Vortrag die Schule als „Massengrab der Kinderträume") Natürlich hat die Geschichte ein Happy-End: Jim, Lukas und Emma können die Prinzessin befreien, einen Drachen gefangennehmen und dadurch, daß sie ihn nicht töten (weil: children cannot bear cruelty in cinema, MR) ihn sogar erlösen und zu guter Letzt findet sich auch noch eine Lösung für das Problem der drohenden Übervölkerung von Lummerland. Aber das verrate ich jetzt hier nicht; vielleicht kann ich Sie ja dadurch zum Quellenstudium ermuntern. Selbstverständlich gibt es noch viele andere Hinweise auf Calc: Hier die Seiten auf denen sie sich finden lassen: 3, 4, 6, 8, 9, 13, 15, 16, 21, 22, 27, 29, 36, 39, 41, 53, 59, 64, 65, 77, 91, 92, 93, 94, 97, 98, 106, 108, 114, 126, 127, 129, 130, 131, 133, 135, 142, 150, 154, 175, 193, 200, 225, 228 ,232, 238, 242, 244, 249, 250.
Helmut Ossege Jüdenstr. 21, 37073 Göttingen
Quellen:
Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Stuttgart-Wien, 1960. Die Seitenangaben beziehen sich auf die gebundene Ausgabe im Thienemann-Verlag.
Barthel, Synthetisches Repertorium, Heidelberg 1973
Mac Repertory, Version 3,6 D, 1993
(Die Kulturecke ist fester Bestandteil der Homöopathie Zeitschrift. Wir sind interessiert an Arzneimittelbildern und -typen, die wir in der Kunst antreffen können - in Texten, Bildern und Musik - und sind für entsprechende Hinweise sehr dankbar. Diesbezügliche Zuschriften senden Sie bitte direkt an:
Helmut Ossege, Jüdenstr. 21 37073 Göttingen
HZ 11/95, S. 62 bis 64